“ …Unser Eindruck auf der sehr holprigen Fahrt über teilweise kaputte Straßen, vorbei an Favelas direkt neben Luxus-Einkaufsmalls: einige Stadtteile von Rio bräuchten wohl etwas anderes als olympische Spiele.“

Olympia in Rio – sportliche Begegnungen in der Stadt der Kontraste

Der katholische Diakon Rolf Faymonville war mit der Deutschen Olympiamannschaft als Seelsorger in Rio. Er erzählt in seinem Olympiatagebuch von seinen Erfahrungen. Einige Auszüge daraus hat er für uns zusammengestellt.

„Einfach bei den Menschen sein.“

An unserem zweiten Tag in Rio fahren mein evangelischer Kollege Thomas Weber und ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln vom Stadtteil Botafogo nach Barra. Dort ist das Deutsche Haus, ein wichtiger Treffpunkt für die Athleten. Wir wollen den Weg für die nächsten Tage auskundschaften. Unser Eindruck auf der sehr holprigen Fahrt über teilweise kaputte Straßen, vorbei an Favelas direkt neben Luxus-Einkaufsmalls: einige Stadtteile von Rio bräuchten wohl etwas anderes als olympische Spiele.

Abends am Strand von Leblon, Ipanema und Copacabana sieht man viele Brasilianer spielen, Beachsoccer, Beachvolleyball. Auch zahlreiche Feierabendjogger: sehen und gesehen werden. An der Copacabana dann pulsierendes Leben an den Standpavillons. Wir sehen das große, speziell errichtete Beachvolleyballstadion, Fernseh- und Medienzentren, viel Polizei und Militär. Man hat den Eindruck, hier am „sichersten“ Ort der Welt zu sein … Wir treffen eine Stewardess vom Hinflug – und binnen weniger Minuten haben wir ein sehr tiefgehendes Gespräch über Gott und den Sinn des Lebens, mitten auf der Strandpromenade. Das erleben mein Kollege Thomas Weber und ich immer wieder: Wenn wir sagen, dass wir die Seelsorger für das Olympiateam sind, öffnen sich die Menschen und erzählen uns ganz persönliche Erlebnisse und stellen ihre Fragen. Ohne aufgesetzte Phrasen und ohne Umschweife geht es direkt ans Eingemachte. Toll, soviel Offenheit und Vertrauen zu erleben.

Thomas und ich kaufen kurz vor Schalterschluss noch Karten für das Beachvolleyballturnier. Wir gehen zu Fuß zurück nach Botafogo. Um 18 Uhr ist es hier schon dunkel. Einige doch etwas zwielichtige Gestalten begegnen uns. Aber wir sind überzeugt: Zwei großen, gestandenen Männern mit dem nötigen Gottvertrauen wird schon nichts passieren. In den Nebenstraßen, durch die wir gehen, um den Weg etwas abzukürzen, sehen wir Menschen, die nur mit einer kurzen Hose bekleidet im Müll nach Essbarem oder sonstigem Brauchbaren wühlen. Erschütternd angesichts all des Wohlstands, den wir vorher noch gesehen haben.

Abends treffen wir uns mit dem Leitungsteam des Deutschen Olympischen Jugendlagers zum Essen und auf einen „Choppe“ – ein eiskaltes Bierchen nach einem eindrucksreichen Tag. Mein erstes Fazit: Rio ist ungeheuer vielschichtig: Lebensfreude und Überlebenskampf liegen ganz nah beieinander. Soziale Nöte und Reichtum, viele offene Begegnungen und gute Gespräche, meist aus einfachen Alltagssituationen heraus. Man muss eben einfach bei den Menschen sein! Und über allem steht die weltberühmte Statue „Cristo Redentor“ und breitet ihre Arme aus – auch über unsere offenen Fragen. …

Seelsorger – gibt’s das auch hier?

Überall, wo wir auftauchen, werden wir offen, wenn auch manchmal erstaunt, aufgenommen: „Seelsorger? Gibt es das auch hier? Das ist ja interessant.“ Wie immer, wenn jemand erfährt, dass wir Seelsorger sind, hören wir über positive und negative Erfahrungen mit den Kirchen. Aber auch immer recht schnell über ganz persönliche Dinge: den Tod eines nahen Verwandten, die eigene berufliche Suche nach der aktiven Sportkarriere, die Frage nach Werten im Sport und der „Familie“ der Mannschaft.

Wir diskutieren über Förderung junger Menschen, ethische und emotionale Aspekte des Dopings für Athleten und Trainer oder Funktionäre sowie über die oft ungerechten und fragwürdigen Maßstäbe des Sportbusiness. Eine große Bandbreite von Themen. Wir merken: Es sind Menschen, die brennen für ihre Sache, die machen sich viele Gedanken, die suchen nach guten Wegen, um ihren Sport weiterzubringen. Es sind aber auch ganz normale Menschen mit Sorgen und Nöten, mit Erfahrungen, die es zu bewältigen gilt.  …

Lebenschancen

Thomas Weber und ich sitzen morgens meist ab 7.00 Uhr in unserem „Büro“ im Festsaal der Deutschen katholischen Gemeinde in Rio und bearbeiten einige E-Mails: Interviewanfragen von Radiosendern und Zeitungen. Wir vereinbaren Telefontermine für die kommenden Tage. Dann nutzen wir die Zeit vor den großen Wettkämpfen und fahren wir an die Copacabana zum Schwimmen. Menschen aller möglichen Schichten sind zusammen am Strand und genießen den zusätzlichen Feiertag. Dazwischen immer wieder fliegende Händler, die ihre Waren anbieten. Ein harter Job, der viel Frustrationstoleranz verlangt, denn nicht alle Angesprochenen reagieren freundlich. Da ich kein Handtuch dabei habe, kaufe ich ein großes buntes Tuch mit einem Bild von den Favelas. Bunt und fröhlich schauen sie darauf aus, im Hintergrund der unverzichtbare „Cristo Redentor“.

Ich denke: „Man kann sogar mit dem Elend Geschäfte machen“, auch wenn nicht alle Favelas nur aus Wellblechhütten bestehen. Und als ich auf das Etikett des Tuches schaue, lese ich: „Made in Indonesia“. Es gibt immer noch Ärmere, die für noch weniger Geld arbeiten.

Danach geht es nach Hause in die deutschsprachige Gemeinde. In der benachbarten deutschen Schule ist das Deutsche Olympische Jugendlager (DOJL) untergebracht. Mit den Jugendlichen schauen wir uns auf der Videoleinwand die Eröffnungsfeier an. Und wieder sind es die kleinen Gespräche am Rande, die uns Chancen geben, mit Menschen über ihr Leben und/oder Gott ins Gespräch zu kommen – immer mit der erstaunten Frage: „Olympiaseelsorger, so was gibt es? Find ich gut.“ …

Zerbrochene Träume

Am Samstagvormittag erhalten Thomas Weber und ich unerwartet die Chance, Karten für den Turnwettbewerb zu bekommen. Wir kauften drei Tickets – mit dem Plan, das dritte jemandem zu schenken, der keine Karte hat. Als wir nach Sicherheitschecks im Olympiapark sind, geben wir unser drittes Ticket über den Zaun an eine Brasilianerin weiter, die draußen am Gitter einen Blick auf das Olympiagelände zu erheischen versucht. Sie ist überglücklich – und einige Zeit später sitzen wir zusammen in der Wettkampfhalle für „Ginástica atletica“.

Betroffenheit herrscht über die Verletzungen des deutschen Turners Andreas Toba (Kreuzbandriss) und des französischen Turners Samir Ait Said (Komplettbruch des Unterschenkels). Der Bruch war durch die ganze Halle zu hören und löste großes Entsetzen aus. Breite Bewunderung über den Kampfgeist der Turner nach der Verletzung von Andreas Toba, der trotz Verletzung weiterturnte und so die deutsche Mannschaft ins Finale brachte.  Bei einigen wurde aber auch diskutiert, ob es richtig war, dass der Sportler mit dem Kreuzbandriss noch weiterkämpfen durfte. Sport und Ethik konkret: Wie viel Verantwortung für die Gesundheit muss wahrgenommen werden? Und die Olympiaträume eines hervorragenden Turners sind geplatzt. Wie kommt man mit so einem Rückschlag klar?

 

Ein Verbandsvertreter erzählt uns von den Erfahrungen, die er mit der Aufnahme von einem minderjährigen, allein reisenden Flüchtling und einer Flüchtlingsfamilie gemacht hat. Er zeigt großes privates soziales Engagement und kirchliche Bindung, was aber in seiner sportlichen Aufgabe nur am Rande eine Rolle spielen kann. Umso froher ist er, mit uns sprechen zu können. Und dass die Kirchen Seelsorger für das Olympiateam bereitstellen.

Am Abend erhält Thomas Weber einen Anruf: Ob wir mit zum Schwimmfinale gehen wollen. Ein Trainer, den Thomas schon länger kennt und den er u.a. einmal bei einem Nachruf auf einen verstorbenen Sportler unterstützt hat, und ein Mitarbeiter haben noch zwei Karten übrig. Auch hier ergeben sich schnell wieder persönliche Gespräche über die private Lebenssituation, die aktuelle sportliche Erwartung und die Auseinandersetzung mit widrigen Umständen beim Training. Wir sind immer auch als Seelsorger unterwegs – beim gemeinsamen Zuschauen der Schwimmfinals. Und dürfen uns freuen, bei zwei neuen Weltrekorden live dabei zu sein.

Beim segnenden Christus, der seine Arme ausbreitet über Rio

Wir stehen wartend am Straßenrand. Der Verkehr in Rio ist unberechenbar. Christian Frevel, Pressesprecher von Adveniat, wollte uns abholen, um mit einigen Mitgliedern des DOSB-Präsidiums, der Deutschen Olympia Akademie und Angehörigen einen ökumenischen Gottesdienst auf dem Corcovado im Fußsockel der Christusstatue zu feiern. Endlich werden wir aufgepickt. Auf der Fahrt hören die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mehr über die soziale Situation in Rio und ganz allgemein in Brasilien, auch über die Hilfsprojekte, die Adveniat hier betreut. Alle spitzen die Ohren, einige fragen engagiert und kritisch nach. Wir merken: Das ist konkrete Lobbyarbeit bei Menschen, die sich auch in Funktionärspositionen für soziale Problemthemen interessieren und engagieren, die aber auch genau wissen wollen, warum etwas geschieht. Stephan Jentgens, stellvertretender Geschäftsführer von Adveniat, erklärt die Zusammenhänge. Kurz vor dem Gipfel noch ein Blick über die Stadt, weil es oben ganz neblig ist. Wir sehen, wo die Projekte von Adveniat liegen – in der ganzen Stadt verteilt.

Der Hausherr Padre Omar und eine deutschbrasilianische Schülerin nehmen uns freundlich in Empfang und beginnen mit einem dort üblichen Gebet. Dann singen wir – begleitet von Gitarre und Klarinette  „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“. Ein erster Einstieg, denn Jesus in unserer Mitte ist es, der zu uns sprechen will. Wir schauen auf die Statue:

Der segnende Christus, der die Arme ausbreitet über einer Stadt mit so viel Elend. „Kommt alle zu mir die ihr mühselig und beladen seid. Mein Joch ist leicht.“ Unser Predigttext. Es fällt uns leicht, eine Brücke zu schlagen zu dem Projekt „Rio bewegt. Uns“, auch zum Sport, zu Erwartungen in der Leistungsgesellschaft – und zur Botschaft Jesu. Dass er uns ganz persönlich anspricht, uns für und mit ihm einzusetzen für Benachteiligte. „Zeige uns den Weg hier in dieser Zeit“. Gott gibt Orientierung und Singen gehört zum Gottesdienst. Und die brasilianische Freude darf nicht fehlen. Anschließend spielen Christian Frevel und ich noch „The Girl from Ipanema“ – natürlich nach der Andacht.

Es ergeben sich im Nachhinein viele Gespräche zu den dem, was Thomas Weber und ich während der Andacht gesagt haben. Aber vor allem positive Rückmeldungen: „Das hat gut getan hier in dieser Kapelle“. Das obligatorische Foto mit Cristo Redentor, der heute ganz anders als auf den Postkarten in geheimnisvolle Wolken gehüllt ist, eine Hand ganz klar in eine Richtung weisend.  Das passt zu den Gedanken aus der Andacht …

Warum gehen wir als Seelsorger meist zu zweit?

Wir sind uns bewusst, dass Jesus seine Jünger zu zweit losschickte, um die Frohe Botschaft den Menschen weiterzusagen. Wir sind uns auch bewusst, dass, wo zwei oder drei in Seinem Namen beisammen sind, ER mitten unter uns ist. Und wir spüren, dass wir diese Gegenwart Jesu auch dann ein wenig erfahrbar machen können, wenn wir nicht gerade „fromme“ Gespräche führen.

 

Ein wichtiger Dienst, der Zeit und Kontinuität braucht

Endlich können wir mit den Verantwortlichen für die Termine im Deutschen Haus und die Akkreditierung im Olympischen Dorf persönlich sprechen. Morgen dürfen wir ins Olympische Dorf. Unsere Broschüre „Mittendrin“ verteilen wir in die Fächer der Mannschaftsverantwortlichen für die einzelnen Sportarten – mit der Bitte, sie weiterzuleiten und den Athletinnen und Athleten unsere Angebote bekannt zu machen. Mehr noch als wir erwarten konnten: Céline im Sekretariat erklärt sich bereit, unsere Einladung zum Gottesdienst und unsere Kontaktdaten per Massen-SMS und E-Mail an die gesamte Mannschaft und ihre Betreuer zu senden. Die eineinhalb Stunden Fahrt zum Deutschen Haus haben sich für uns schon gelohnt!

 

„In den Stadien – Sport aus einer anderern Persepktive“

Neben den seelsorglichen Angeboten und Aufgaben haben Thomas Weber, mein evangelischer Kollege als Olympiaseelsorger, und ich insgesamt 10 Sportarten live erlebt. Ganz bewusst haben wir eher Randsportarten ausgesucht, um einmal bewusster zu erleben, was diese Sportarten ausmacht.

Wir haben auch Sportveranstaltungen besucht, an denen Athleten teilnahmen, zu denen wir persönlichen Kontakt hatten, oder deren Verbandsvertreter wir kennengelernt haben. Viele dieser Veranstaltungen und Begegnungen waren sehr interessant und anregend. So habe ich mir Olympia vorgestellt: mal Sportdisziplinen kennenzulernen, die man nicht immer im Fernsehen sieht.

Die Stimmung in den Stadien war gut, auch wenn zahlreiche Sitzplätze leer blieben, da Firmen und Sponsoren nicht alle Tickets, die sie erworben hatten, nutzten oder weitergegeben hatten. Die Brasilianer sind – das fällt auf – ein sehr parteiisches und bisweilen unfaires Publikum. Sportler aus anderen Ländern werden ausgebuht, wenn Brasilianer am Start sind. Schiedsrichterentscheidungen werden mit Pfiffen quittiert, sobald sie gegen brasilianische Athleten gingen – egal ob die Entscheidung richtig war oder nicht. Viele haben keine Ahnung von den Regeln der Sportarten, die sie anschauen. Aber sie sind begeisterungsfähig – auch das ist Brasilien.

„Trauer und Entsetzen – Trost und Weggemeinschaft“

Überschattet werden die Spiele vom tragischen Unfalltod von Stefan Henze. Wir hatten am Abend des Unfalls noch mit den Kanuteam zusammengesessen und über den weniger erfolgreichen Finaltag gesprochen. Und dann dieser schreckliche Unfall. Alle sind geschockt und tief berührt.

Die DOSB-Verantwortlichen und die Mitarbeiter des Auswärtigen Amts leisten bei der Betreuung der Angehörigen professionelle und persönlich engagierte Hilfe. Auch wir Seelsorger sind eingebunden. Unsere Gottesdienstangebote am Wochenende im Deutschen Haus und im Athletendorf greifen die Gefühle und Sorgen der Mannschaft auf. Wir beten für Stefan Henze für seine Familie, für die Sportler, die sich Sorgen um ihn machen und die selbst noch im Wettkampf stehen. Einige Athleten und Trainer suchen Gespräche mit uns. Die Sorge um die Unfallbeteiligten und die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens, nach dem, was in einer solchen Situation wirklich zählt – jenseits des Sports – werden thematisiert. Es wirkt befreiend, darüber sprechen zu können. Auch im Deutschen Olympischen Jugendlager gestalten wir eine „Spätschicht“ – eine Abendmeditation.

Dann kommt die Nachricht vom Tod Stefan Henzes. Trauer und Entsetzen bei vielen. Wir gestalten eine Gedenkfeier am Denkmal für die verstorbenen Olympioniken im Athletendorf in Abstimmung mit dem „Chef de mission“ und seinem Stab.

Eine beeindruckend große Gruppe der Olympiamannschaft zieht vom Mannschaftshaus zum Gedenkplatz. Die Sportlerinnen und Sportler stehen sehr betroffen und bewegt im Halbkreis. Vor dem Denkmal stehen ein Bild von Stefan und Blumen. Ich versuche zu Beginn der Feier mit einer Klarinettenimprovisation die Gefühle der Teilnehmer einzuholen. Die Musik tut gut, die Gedanken haben Raum und Zeit anzukommen.

Dr. Michael Vesper hält eine persönliche Ansprache über Stefan Henze, seine Laufbahn, seine Lebenswerk, seinen Tod und die Betreuung der Angehörigen. Klarinettenmusik. Dann sagt Thomas Weber etwas über den Wert des Lebens, das mehr ist als nur Sport, über die Grenzen des Lebens und die Hoffnung auf ein gutes Ende. Es folgt eine Gedenkminute. Danach trage ich das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse vor, der auch ein Suchender war: suchend nach Sinn, nach Erfüllung, nach Befreiung. Viele lassen ihre Gedanken mitziehen.

„… Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

… Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Zum Abschluss erklingt die olympische Hymne. Eine würdige Feier, in der sich alle mit ihren unterschiedlichen Fragen und Vorstellungen vom Leben, vom Tod und von Gott wiederfinden können.

Ich bin sehr bewegt, als ich erfahre, dass Stefans Eltern einer Organspende zugestimmt haben. So hat Stefan noch vier Menschenleben in Brasilien retten können. Ich weiß aus eigener Erfahrung, was das bedeutet. Respekt vor der Großherzigkeit der Familie Henze.

Viele Emotionen begleiten diese Spiele: Siege und Niederlagen, Verletzung und Tod. Aber es sind auch die Gegensätze, die wir hier tagtäglich erleben, die uns erschüttern und berühren.

In der Favela und im Palais des Botschafters – „Rio bewegt. Uns.“

Wir besuchen drei Tage vor Ende der Spiele mit den jungen Athleten des Deutschen Olympischen Jugendlagers ein Projekt von Adveniat, das zur Aktion „Rio bewegt. Uns“ gehört. Kinder in den Favelas erhalten hier die Gelegenheit, Sport zu treiben – nicht bloß zum Zeitvertreib oder als Vergnügen – obwohl wir sehen, dass es ihnen riesig Spaß macht. Die jungen Deutschen sind mit Eifer dabei. Sie schließen die Kinder sofort in ihre Herzen und spielen miteinander Ball. Einer unserer Teilnehmer ist Rollstuhlbasketballer und weckt große Bewunderung, wie er geschickt mit dem Ball umgeht und den Korb trifft. Alle haben viel Freude am gemeinsamen Spiel.

Die Mitarbeiterin der Erzdiözese Rio, die mit Adveniat eng kooperiert erklärt uns die Arbeit in diesem Projekt: Kinder aus der Favela lernen nicht nur, an der Bewegung Freude zu haben, sondern sie lernen mit dem Sport auch, Verantwortung zu übernehmen, Regeln und Vereinbarungen einzuhalten, sich einer Gemeinschaft einzuordnen. Sie erfahren, dass es Wege aus der Favela, Wege aus der Armut geben kann, wenn man sich für ein Ziel einsetzt. Besonders talentierte Jugendliche werden mit Sportlern der brasilianischen Armee zusammengebracht und erhalten hier bessere Trainingsmöglichkeiten. Sie sehen dort auch, dass man sein Leben anders gestalten kann, als sie es täglich erleben.

Nicht der hat Recht, der eine Waffe hat und Gewalt ausübt oder raubt, Familien müssen nicht aus Kindern bestehen, die Kinder bekommen.Geordnete und zuverlässige Strukturen im Alltag können ihnen helfen, Selbstbewusstsein aufzubauen, eigene Entscheidungen zu treffen, sich anzustrengen und Alternativen zu suchen. Und für manche ist es einfach auch die Möglichkeit, einmal etwas Leckeres zu essen und zu trinken.

Abends sind wir dann alle beim deutschen Botschafter eingeladen. Wir erleben Gastfreundschaft in einer repräsentativen Residenz, gutes Essen, Gäste aus der gehobenen Gesellschaft, die mit uns die Athleten feiern. Welch ein Kontrast zum Vormittag! Die Jugendlichen erzählen, dass sie das sehr heraus- , fast überfordert, was sie in Rio alles erleben. Sie werden nicht unverändert nach Deutschland zurückkehren.

Olympia, das ist eben nicht nur ein großartiges Sportevent. Das ist auch Begegnung mit anderen Ländern, Menschen und Kulturen. Olympia ist eine Chance nicht nur zur Steigerung eigener sportlicher Leistung, sondern auch zur Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit. Olympia ist die Herausforderung, Verantwortung zu übernehmen für Fairness, Frieden und Nachhaltigkeit. Der Sport muss nicht Selbstzweck sein, auch nicht Wirtschaftsfaktor und Unterhaltungsindustrie. Er kann vielmehr beitragen zu einer besseren Welt – wir müssen diese Chance nur sehen und nutzen.

Mein Fazit: Worauf kommt es an, wenn man Olypiaseelsorger ist?

Jede Sportart braucht besondere Typen. Wer sie verstehen will, muss sich auf ihre Welt einlassen. Das gilt auch für Funktionäre, Verbandsvertreter, Sponsoren usw. Im Sportmilieu ergeben sich seelsorgliche Gespräche nicht unbedingt nach Niederlagen als Trauerarbeits- oder Bewältigungsstrategiesitzung. Sie ergeben sich im alltäglichen Miteinander, beim gemeinsamen Weg zu den Wettkämpfen anderer Sportarten, beim Glas Bier oder Mineralwasser am Abend… Nicht planbar, sondern vom „kairos“ – vom passenden günstigen Moment – abhängig. Dafür muss man offen und flexibel sein.

Lobbyarbeit und Mitsprache in gesellschaftlichen ethischen und pädagogischen Belangen gelingt auch im Sport nur mit persönlichen Beziehungen, die aus Begegnungen und Gesprächen erwachsen. Dazu muss man bei den Menschen sein. Olympia-Teamseelsorge umfasst weitaus mehr als Sportlerbetreuung, die bei uns erst noch durch das Knüpfen von Kontakten wachsen muss. Was übrigens jedes Mal bei Olympischen Spielen wieder neu einsetzen muss! Und: Es geht nicht in erster Linie um Sport, sondern um alltägliche Themen, die alle Menschen berühren. Sport spielt da eine Rolle, wo es um die Einordnung der eigenen Leistung geht und um die verantwortungsvolle Ausrichtung des eigenen  geht. Ein wichtiger Dienst, der Zeit und Kontinuität braucht, damit Beziehungen wachsen können.

Ich bin dankbar, dass ich dabei sein durfte. Ich bin froh über die kreative und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit meinem evangelischen Kollegen Thomas Weber. Ich bin glücklich, so viele wunderbare Menschen getroffen zu haben. Aber ich bin auch bewegt vom Leid, das ich erlebt habe. Ich bin motiviert, mich für Gerechtigkeit und Fairness, Respekt und Menschenwürde einzusetzen. Und ich hoffe, viele dafür zu begeistern, daran mitzuarbeiten. Dann wird Olympia immer mehr zu dem was es eigentlich sein will.

Rolf Faymonville. Diakon